Susanne Fischer

Alice Schmidt in Greiffenberg um 1944
(Erstveröffentlichung in: »Bargfelder Bote«, Lfg. 309-310, August 2008)

Wie lebte Alice Schmidt, während ihr Mann als Soldat in Norwegen stationiert war? Es gibt nur wenig Dokumente, die über das nackte Datengerüst hinaus Auskunft geben, darunter als Wichtigstes das Tagebuch aus dem Jahr 1944.(1) Es handelt sich um einen kleinen Taschenkalender, der für jeden Tag nur einigen Zeilen Raum bietet. Warum Alice Schmidt in dieser Zeit Tagebuch führte, ob sie in den voraufgegangenen Jahren Tagebücher schrieb, die dann verloren gingen, oder ob sie erst im Januar 1944 damit begann, ist nicht bekannt.(2) Zur Beantwortung dieser Fragen trägt das Dokument selbst bei: Die Eintragungen sind kurz und für jemanden, der mit Alice Schmidts unmittelbarer Lebenswelt nicht vertraut ist, oft nicht zu verstehen. Es ist also auszuschließen, daß das Tagebuch im Hinblick auf die Nachwelt verfaßt wurde.(3) Besuche der Verwandten, Briefe und Pakete von und an Arno Schmidt, Hausarbeiten, Lektüre und Freizeitunternehmungen wurden – meist kurz – verzeichnet, so daß die Notizen eher wirken wie eine Gedächtnisstütze, als daß sie einer ausführlichen ›Seelenerforschung‹ dienen könnten. Möglicherweise wurde es auch für ihren Ehemann geführt, in der Art eines privaten Rechenschaftsberichtes über die allein verbrachte Zeit. Außerdem diente Alice Schmidt das Tagebuch zur Verbesserung ihrer Fähigkeiten, sich in englischer Sprache auszudrücken, die sie – die in der Schule keine Fremdsprachen gelernt hatte – sich wohl mehr oder weniger autodidaktisch angeeignet hatte: Fast alle Einträge sind in einer Art korrumpiertem Englisch abgefaßt, bei dem die Schreiberin fehlende Vokabeln durch deutsche Wörter oder ›verenglischte‹ deutsche Wörter ersetzt. Diese Phantasiebegriffe erschweren die Entzifferung der Notizen und verdunkeln darüber hinaus – zusammen mit ungewöhnlichen Satzkonstruktionen – auch gelegentlich den Sinn der jeweiligen Eintragung.

Alice Schmidts Situation im Zweiten Weltkrieg
Alice Schmidt wurde in Greiffenberg am 24. 6. 1916 als Alice Murawski geboren. Sie war die älteste von drei Geschwistern. Ihr Bruder Werner (* 1924) fiel am 17. 11. 1943 vor Smolensk, ihre Schwester Erna Sandmann(* 1918) lebte während des Krieges ab 1943 in Greiffenberg als Mutter einer kleinen Tochter Monika (*1943), auf die Alice Schmidt im Jahr 1944 gelegentlich aufpaßte. Die Ehe der Eltern Murawski wurde im Jahr 1937 geschieden, jedoch hatte der Vater die Familie schon früher verlassen, denn die Schulzeugnisse Alice Schmidts aus den Jahren 1922-1930 wurden stets von ihrem Großvater Heinrich Schäfer unterzeichnet, in dessen Greiffenberger Haus in der Gerberstraße 7 sie bis zu ihrer Hochzeit wohnte,(4) und in dem auch ihre Mutter Else Murawski lebte.
Alice Schmidt hatte eine Ausbildung zur Bürogehilfin bei einem Rechtsanwalt und Notar absolviert, im Jahre 1934 zu den Greiff-Werken gewechselt, die sie 1937 nach ihrer Hochzeit mit Arno Schmidt auf Wunsch ihres Mannes verließ. 1938 zog das junge Ehepaar in eine Werkswohnung der Greiff-Werke in der Schützenstraße 4 in Greiffenberg. Alices Schwester Erna, die zuvor in Zeuthen bei Berlin gelebt hatte, zog 1943 in die Schützenstraße 2, vermutlich, weil ihr Mann ebenfalls Soldat war und sie als junge Mutter die Unterstützung ihrer Familie brauchte. Wenn Alice Schmidt ihre Nichte betreute, geschah das jedoch meist im Haus in der Gerberstraße.
Alice Schmidts Hausfrauendasein endete im Mai 1940, als sie als »Kriegs-Aushilfsangestellte« im Reserve-Lazarett Greiffenberg als Stenotypistin begann. Wie willkommen ihr dieser Arbeitseinsatz war, ist nicht überliefert; sicherlich half ihr aber das Gehalt als Zulage zum Wehrsold. Im August 1941 beendete sie ihre Arbeit im Lazarett – man trennte sich »nach gegenseitigem gütlichen Übereinkommen«, wie es in einer Bescheinigung ihres Arbeitgebers hieß. Ab Februar 1942 ist ihre Tätigkeit bei den Greiff-Werken belegt.

Die Arbeit
In den Greiff-Werken nahm Alice Schmidt im Jahr 1944 offenbar eine ähnliche Position ein wie vor ihrer Verheiratung: Sie kümmerte sich um die ausgehende Post, leitete Lehrlinge an und war – so legen es die spärlichen Angaben im Tagebuch nahe – dem Leiter der Greiff-Werke Erich Häussermann direkt unterstellt oder hatte jedenfalls häufig Kontakt zu ihm. Sie nahm zum Beispiel teil an einer Besprechung der Abteilungsleiter und »guter geschulter Kräfte« (5) über Lehrlingsfragen und gehörte auch zu dem engeren Kreis der Mitarbeiter, die Erich Häussermann zum Jahresende 1944 nach Hause einlud (sie schlug die Einladung aus).
Alice Schmidt arbeitete 1944 zunächst nur etwa dreißig Stunden pro Woche oder weniger, sie begann jeweils erst nachmittags mit der Arbeit, die, je nach Arbeitsanfall, am frühen oder späten Abend beendet war – am 23. März notierte Alice Schmidt, daß sie bis 21 Uhr gearbeitet habe, woraus man schließen kann, daß die Arbeitszeit sonst früher endete. Am 22. Februar sprach sie mit Dr. Häussermann »über 30-Stunden-Woche«, dieser Tagebucheintrag klärt aber nicht, ob das für sie mehr oder weniger Arbeit bedeutete als vorher – vermutlich mehr, denn am 24. Februar wurde besprochen, daß sie künftig um 15 Uhr mit der Arbeit beginnen sollte, während zuvor wohl ein späterer Arbeitsanfang vereinbart war.
Am 7. August bat Dr. Häussermann sie um einen Vorschlag für längere Arbeitszeit, und am 16. August notierte sie: »Neue Verordng. 60 Std Arbeitszt. und 30% Bürokräfte in Fertigung«. Am 1.September erfuhr sie: »Dr. H. said me, Mrs. from A. H. habe ihn auf Straße weg. m. Arbeitszeit angehalten. Er habe m. lg. Abendzeit vertreten u. ihr versprochen daß ich mich wenig [unleserlich] provozierend sehen lasse. – Sonst bleibt noch Alles beim Alten.« Die Provokation bestand vermutlich darin, daß Alice Schmidt wegen ihrer späten Arbeitszeit im Sommer tagsüber häufig mit dem Fahrrad zum Schwimmen fuhr oder im Garten in der Sonne lag. Am 6. September heißt es: »At home I found order for NSDAP for work in war. Here sat high animals from Partei. Mrs. H. from work office said only ›erledigt, mit Dr. H. bespr.‹ – Very fine!!«
Ob diese »Order« wegen der ›Provokation‹ erfolgte, oder ob sich Alice Schmidt zuvor tatsächlich zur Wehrarbeit bereit erklärt hatte, wie sie das zumindest erwogen hatte,(6) ist nicht mehr zu ermitteln. Am 27. Oktober jedoch meldete sich Alice Schmidt als erste Angestellte der Greiff-Werke freiwillig zur sonntäglichen Wehrarbeit – ob aus Überzeugung oder um ihre ›Provokation‹ vergessen zu machen, bleibt im Dunkeln. Und während ihr der erste Sonntag (29. Oktober) noch wie ein Ausflug erschien (»Glogischdorf war Endstation. Dann 1 Std. Marsch durch schönen Herbstwald. Weit über 1000 Leute mit geschulterten Spaten. – Wir hoben eine Panzerfalle aus. War leichter Sandboden.«), nannte sie den zweiten Einsatz (26. November) bereits »freiwillig gezwungen«.
Im September erhielt sie die Nachricht, daß ihr Gehalt auf 180 Reichsmark steigen sollte. Durch ihre Berufstätigkeit konnte sie auf ihrem Postsparbuch bis Anfang 1945 1600 Reichsmark zurücklegen, die für sie als Flüchtling und später, in der Cordinger Zeit, auch für Arno Schmidt noch bis zum März 1948 zum Lebensunterhalt beitrugen.
Soweit es sich aus ihrem Tagebuch ersehen läßt, betrachtete Alice Schmidt aber als ihre eigentliche Arbeit zumindest im Jahr 1944 nicht ihre Erwerbstätigkeit, sondern zum einen die familiensprachlich so genannten Dierdeleien, das heißt ihre persönliche Bildung durch ein Selbststudium in Büchern, und zum anderen die Ordnung und Verbesserung des Haushalts. Beide Projekte betrieb sie in erster Linie nicht für sich selbst, sondern für ihren Mann, der auch mitbestimmte, mit welchen Wissengebieten sie sich beschäftigen sollte. Im einzelnen handelte es sich um Paläontologie, ägyptische Kunstgeschichte, Mittelhochdeutsch, englischen Aufsatz und deutsche Literatur.
Sie widmete sich dem Ziehen und Einkochen von Gemüse und Obst sowie dem Sammeln und Einkochen von Waldfrüchten. Die Versorgungslage scheint – schon wegen der partiellen Selbstversorgung – weitgehend unproblematisch gewesen zu sein. Alice Schmidt verfügte auch über größere Mengen eingelegter Heringe, die Arno Schmidt aus Norwegen mitgebracht hatte, und von denen sie einmal fünf Stück gegen Schweinefleisch tauschte. Zu allen Festtagen konnte sie Kuchen und Kekse backen. Andererseits vermerkt ihr Tagebuch von März bis Juli 1944 eine Gewichtsabnahme um vier Kilo. Neben den laufenden Haushaltsarbeiten, für die sie gelegentlich eine Hilfe hatte, räumte sie systematisch Regale und Schubladen auf, fertigte einen Vorhang für das Bücherregal an und ließ die Wohnung malen. Sie nähte sich ihre Kleidung selbst. Alle diese Tätigkeiten dienten ihr aber wohl hauptsächlich dazu, die Zeit zu füllen, die sie ohne ihren Mann verbringen mußte. »The other time I shall read and keep clear body, Geist and Seele for Arno! My Arno!« heißt es im Tagebuch (28. Februar).

Der abwesende Ehemann
Von der Korrespondenz(7) zwischen Arno und Alice Schmidt während des Krieges, wie sie im Tagebuch überliefert ist, hat sich außer wenigen leeren Briefumschlägen nichts im Bargfelder Archiv erhalten. Dies scheint um so erstaunlicher, als Alice Schmidt die Briefe ihres Mannes mehr als einmal las. So las und ordnete sie zum Beispiel im April und Mai 1944 die Briefe des Jahres 1937,1940 und des Winters 1943/44. Von »Tagebuchbriefen« (22. 3.) Arno Schmidts ist die Rede, darüber hinaus wird ihr Inhalt nicht wiedergegeben. Aus einem Brief Else Murawskis, die bereits im Februar 1945 wieder nach Greiffenberg zurückkehrte und versuchte, die Habe ihrer geflüchteten Töchter zu beschützen, geht hervor, daß Schmidts ihre Briefe zurückgelassen hatten: »Nicht einmal die Briefe von Arno hast Du weggetan, gestern lagen sie alle auf dem Tisch. Es ist das gleiche Lied, was man überall hört, die Soldaten ziehen über alles her und der kann froh sein, dem sie nichts mitnehmen. Aber alles Eßbare wird restlos vertilgt. Man kann nicht alles schreiben wie sie gehaust haben, sonst denkst Du am Ende der Russe war schon hier.«(8)
Feldpostpäckchen mit kleinen Mengen von Lebensmitteln wie selbst eingemachten Blaubeeren oder gedörrten Äpfeln, etwas Kleidung und gelegentlich einem Buch sandte Alice Schmidt nach Norwegen. Am 1. März schickte sie ihrem Mann Wielands Aristipp, den sie von einem Antiquariat erworben hatte, am 11. April bestellte sie ein »Lehrbuch der Ballistik« für ihn. Anfang April erhielt sie von einem Antiquariat in Prag eine Angebotsliste zu einer Auktion, bei der viele Titel dabei waren, die ihr für ihren Mann interessant erschienen. Sie bat den ehemaligen Vorgesetzten ihres Mannes, Johannes Schmidt,(9) ob er nach Prag reisen könne, um bei der Auktion für sie zu bieten. Johannes Schmidt hätte offenbar auf Grund seiner Stellung ohne größere Schwierigkeiten nach Prag fahren können. Gleichzeitig versuchte sie, Arno Schmidts Bücherwünsche für die Auktion zu erfahren, was zunächst nicht gelang, weil die Post jeweils sieben bis elf Tage unterwegs war. Johannes Schmidt sicherte seine Hilfe zu, erkrankte dann aber – worüber Alice Schmidt so erbost war, daß sie wohl von einer vorgeschützten Krankheit ausging. Sie bot schließlich per Post auf Schnabel und Fouqués Lebensgeschichte, sowie weitere nicht genannte Bücher und – nach einem Brief Arno Schmidts – telegrafisch auf Dickens, die Encyclopedia Britannica und Blake.(10)
Alle einsam oder mit Mutter und Schwester verbrachten Festtage wie Geburtstage, Ostern und Weihnachten waren den Gedanken an den abwesenden Ehemann gewidmet. Alice Schmidt zelebrierte sie mit Lektüre aus den Werken ihres Mannes: Die »Dichtergespräche im Elysium« las sie zum Hochzeitstag, »Die Fremden« zu Arno Schmidts Geburtstag, Weihnachten diente »Das Haus in der Holetschkagasse« zur Lektüre, und »Mein Onkel Nikolaus« schließlich las Alice Schmidt an ihrem eigenen Geburtstag, aber auch danach recht intensiv. Das überrascht insofern, als »Mein Onkel Nikolaus« nur als Fragment in erster Niederschrift vorliegt, während die anderen Erzählungen in einer ›ordentlichen‹ Abschrift existieren. Es ist nicht mehr zu ermitteln, ob Arno Schmidt seiner Frau den unfertigen Entwurf zum Lesen überließ, oder ob womöglich eine weitere Fassung vorhanden war – letzeres erscheint aber unwahrscheinlich, da alle anderen Reinschriften der sogenannten Juvenilia akribisch aufbewahrt wurden. »Pharos« wird in Alice Schmidts Tagebuch nicht erwähnt, aus welchen Gründen auch immer.(11)
Alice Schmidt räumte dem abwesenden Arno Schmidt ein Mitbestimmungsrecht über ihren Alltag ein. Als sie im Februar 1944 an einer Bindehautentzündung erkrankte, verfügte ihr Mann brieflich, sie dürfe nur noch eine Stunde pro Tag lesen, und sie kommentierte in ihrem unbeholfenen Englisch: »That would be a pity, I’ll try to bring him to another mean.« (15. 2.) Das Thema wurde noch weiter verhandelt : »He determinate : no more to dierdeln only one hour a day to read. – First I was furious, but he’s right.« (25. 2.) Die Idee, entgegen seiner Verfügung so viel zu lesen und zu studieren, wie sie wollte, kam ihr nicht, eher schon war sie gerührt über seine strenge Sorge um ihre Gesundheit.
Im April rechnete sie damit, daß Arno Schmidt auf Heimaturlaub käme. Worauf sich diese Hoffnung gründete, läßt sich nicht mehr feststellen; im Juni jedenfalls, nach der Invasion in der Normandie, war ihr klar, daß es nun »für lange Zeit mit dem Urlaub aus« wäre (6. 6.). Sie sorgte sich sehr um ihren Mann, besonders, nachdem ihr Bruder im Herbst 1943 an der Ostfront getötet worden war. Sie hoffte aber auch, daß die Kämpfe in Frankreich dazu führten, daß im Norden keine Kampfhandlungen stattfinden konnten. »Wenn nur meinem Arno nichts passiert.« (10. 6.)
Die liebevolle Sehnsucht nach ihrem Mann führte sie zu einer phantastischen Überhöhung seiner Situation, denn sie sieht ihn als einen »mit Ungeheuern kämpfenden Ritter« (27. 6.). Vielleicht findet hier die Lektüre der Rittermärchen Fouqués ihren Niederschlag; vermutlich ging es aber vor allem darum, ein akzeptables Bild zu finden für eine im Grunde inakzeptable Tatsache: Die geliebten Männer waren, mehr oder minder freiwillig,(12) zum Töten in die Welt gezogen. Die Märchen- und Ritterwelt mit ihrer eindeutigen Zuordnung von Gut und Böse (und der Entmenschung des Kriegsgegners zum »Ungeheuer«) bot hier Entlastung, außerdem schloß sich diese Vorstellung wohl an den Aufbau einer gemeinsamen Märchenwelt in der Ehe an: »wann kommst Du zu Deinem Zessilein ins Mohrenschloß?«(13)

Familie und Freunde
Alice Schmidts Familie stand im Jahr 1944 noch unter dem Schock, den der Tod ihres jüngsten Mitglieds ausgelöst hatte. Werner Murawskis Tod berührte Alice Schmidt schmerzlicher als der Tod ihres Vaters, der am 29. Dezember 1943 in Berlin an den Folgen einer Magenoperation gestorben war. Da die Leiche Werner Murawskis nicht geborgen werden konnte, hofften seine Familie und seine Verlobte zunächst, daß er in Gefangenschaft geraten sei, wurden aber durch Augenzeugenberichte seiner Kameraden eines anderen belehrt. Am 8. Januar 1944 schickte die Kompanie seine Hinterlassenschaften an die Mutter: »Dann kommt ein Paket und da schickt die Einheit Werners Aktentasche mit 1 P. Stockings, spoon and fork, Rasierzeug, seine Greiff-Notizkalender mit Eintragung bis einschl. 12. 11., ein Täschel mit Nähzeug, ein Täschel mit seinen erhaltenen Briefen, meiner dabei. – Der letzte war vom 9. 11. von Vera, noch ein früherer, beide etwas geknittert wie in Tasche getragen. Sein Portmonai mit einem durchbohrten Goldstück, sonst nichts, paar gestempelten Briefumschlägen und einen Kästel mit Stiften, Radiergummi, 1 Lineal und noch ein größeres Lineal. – Ach Werner, Werner nun bist Du gewiß tot! ¬– Ach mein, unser Bruder Du! Armer Werner! « (Tagebuch vom 8. 1.)
Am 8. Februar traf einer der Augenzeugenberichte ein, aus dem Alice Schmidt erfuhr, wie ihr Bruder starb: »Ach Werner, Werner so bist Du gewiß tot. Und rasch und ganz schnell ist Dein Tod gewesen, hast wohl gar nicht gewußt, was Dir passiert. O mein Bruder!«
In seinem letzten Brief an Alice Schmidt hatte Werner Murawski geschrieben, er sehe Orion bei seinen Postenkontrollen, so daß Alice Schmidt beim Blick in den abendlichen Sternenhimmel in diesem Sternbild stets die Augen ihres Bruders gespiegelt fand. Orion war von beiden Geschwistern in ihrer Korrespondenz unterschiedliche Bedeutung verliehen worden. Werner Murawski, der sich für die Offizierslaufbahn entschieden hatte, war während seines zweiten Einsatzes an der Ostfront im Herbst 1943 kein begeisterter Soldat. Aus seinem Brief an seine Schwester Alice vom 4. November 1943 spricht Verzweiflung: »Du, bei Deinen lieben Zeilen trat mir das Wasser in die Augen – Ali, versteh’ mich recht, auch jetzt ist’s soweit. – Ich kann nicht anders! Warum durfte nicht alles so bleiben, wie es war? Ja, Erinnerung, das blieb uns noch als Einziges, als Schönstes übrig. Alles, alles in uns hier draußen klammert sich daran, und läßt uns hoffen. [...] Nachts, wenn ich die Postenkette kontrollieren muß, leuchten über mir so unendlich viel Sterne, dieselben wie in der Heimat – dann bin ich bei Euch, daheim, mit meinen Gedanken. So unendlich groß und schön strahlt der Orion – der wilde Jäger – er ruft mir auch immer zu: ›Ausharren, stark sein, einmal ist auch dies vorbei – einmal wirst auch Du wieder im Frieden die Heimat sehen!’ Ja, Orion, ich höre und will danach leben!« (14)
Dies war der letzte Brief, den Alice Schmidt von ihrem Bruder erhielt. Ihre Antwort erreichte ihn nicht mehr, sondern wurde ihr mit dem Vermerk »Gefallen für Großdeutschland. Zurück an Absender« auf dem Umschlag zurückgeschickt. In diesem Brief heißt es: »Und Orions Rufen willst Du hören und danach Leben! Heilige Göttin Phantaseia, so sei Du jetzt ein Ritter und führe den Orion in Deinem Wappen und kämpfe gegen alles Boshafte und Häßliche wie der Don Quichote. Und das leuchtende Sternbild möge Dich lehren zu erkennen was gut und böse, was recht und falsch.« (15)
Während sie Orion als Emblem für moralische Werte begriff, suchte er im Sternbild einen Schild, um zu überleben, denn er wird – im Gegensatz zu seiner Schwester ¬– aus eigener Anschauung gewußt haben, daß die Chancen dafür nicht zu gut standen. »Krieg ist das Allerentsetzlichste, was diesen Planeten je durchtobte [...] So wahnsinnig grausam ist noch kein Lebewesen außer dem Menschen gewesen, Millionen seiner eigenen Gattung so zu vernichten!« schrieb Alice Schmidt in diesem Briefe, legitimierte den Krieg aber auch: »Aber die Steppenwölfe dürfen nicht gewinnen, sonst wird die Menschheit um Jahrhunderte zurückgeworfen, sie erholt sich vielleicht nie wieder.« Dieses Einschwenken auf die herrschende Kriegsideologie hinderte sie andererseits nicht daran, ihren Bruder zu ermahnen, sich nicht allzu heldisch zu verhalten: »Und das leuchtende Sternbild möge Dich lehren zu erkennen was gut und böse, was recht und falsch. Und was Du vor allem jetzt gebrauchen kannst: was tun und was unterlassen. Ich hoffe, daß Du mich verstehst. –«
An der offiziellen Heldengedenktagsfeier im März 1944 nahm Alice Schmidt nicht teil, sondern ging statt dessen allein im Stadtwald spazieren: »Wonderful feierlich.« (12. 3.).
Die wichtigste Person in ihrem Umfeld scheint für Alice Schmidt im Jahr 1944 ihre Schwester Erna gewesen zu sein, während es mit ihrer Mutter gelegentlich Spannungen gab. Mit Erna traf sie sich abends zum Nähen und zu Gesprächen. Sie hütete deren Tochter Moni, die im Januar 1943 geboren war, auch über längere Zeit: Als Erna und ihr Mann Anfang 1944 für eine Woche zur Beerdigung des Vaters nach Berlin reisten, zog Alice Schmidt für die Zeit in das Haus in der Gerberstraße, um – wohl gemeinsam oder abwechselnd mit ihrer Mutter ¬– das Kind zu versorgen. Während Else Murawski im September, für einen Urlaub, zehn Tage nach Bad Reinerz fuhr, zog Alice Schmidt wiederum in die Gerberstraße, um ihren Großvater zu betreuen. Nach beiden Aufenthalten war sie allerdings erleichtert, in ihre eigene Wohnung zurückkehren zu können.
Kontakte zu Kollegen pflegte sie außerhalb der Arbeitszeit nicht, ihre Freundin Rosa Hornig (geb. Junge) lebte 1944 nicht in Greiffenberg und wurde nur einmal, anläßlich der Geburt ihrer Tochter, von Alice Schmidt in Lauban besucht. Andere Freundinnen gab es nicht, mit Werner Murawskis Verlobter Vera Ostwald traf sich Alice Schmidt selten. Über ihre eigene Familie hinaus wünschte sie keine weiteren Kontakte, ihre Freizeit verbrachte sie, soweit sie nicht ihrer Familie gewidmet war, lesend, radiohörend oder auf einsamen Spaziergängen, im Sommer bei einsamen Radfahrten zum Baden im Stausee. Nach ihrer Trauerzeit ging sie ab Mai 1944 ein- bis zweimal im Monat mit ihrer Schwester, selten mit Vera Ostwald ins Kino. Zu ihrer Lektüre gehörten Coleridge (»Ancient Mariner«, »Frost at midnight«), den sie einmal auch illustrierend zu ihrer eigenen Gemütslage zitierte (»Alone, alone all all alone, on a wide wide sea« , 31. 8.), Hartmann von Aues »Erec«, Wilhelm von Kügelgen (»Jugenderinnerungen«), Poes »Raven«, Fouqués »Undine« und Robert Louis Stevensons »Treasure Island«, mit dem sie sich lange beschäftigte. »Treasure Island« war auch ihr Beitrag zu den beiden überlieferten literarischen Abenden, die sie mit ihrer Schwester beging. »Bei Erna gewesen. Etwas am Kleid genäht und literar. Abend begonnen: Erna begann ›Mein Kampf‹ vorzulesen und ich ihr ›Treasure-island‹ zu übersetzen. – very nice. –« heißt es am 3. 5., und am 10. 5.: »In the eve by Erna. Am Kleid genäht und ›Kampf‹ und Treasure-Island gedierdelt. –« Weitere Erwähnungen von »Mein Kampf« gibt es nicht, die Schwestern stellten die Lektüre entweder ein oder Alice Schmidt fand sie nicht mehr berichtenswert.

Politik und Krieg
Für die offizielle NSDAP-Politik scheint Alice Schmidt nur zum Teil empfänglich gewesen zu sein: Die versuchte Lektüre von »Mein Kampf«, der Wunsch, dem Aufruf von Goebbels zur Wehrarbeit Folge zu leisten, der Besuch eines dreitägigen »SS-Feuerwehrkursus« (im September 1944, als die Luftangriffe häufiger wurden) und die Meldung als erste Freiwillige der Greiff-Werke für die Wehrarbeit am Sonntag stehen auf der einen Seite. Die Vermeidung der offiziellen Heldengedenktagsfeier und das Bemühen, dem Arbeitszwang soweit als möglich zu entgehen, sind sicherlich andererseits als Versuche zu werten, sich den Eingriffen der Regierung ins eigene Leben zu entziehen, aus welchen Motiven heraus auch immer. Es findet sich nirgendwo eine explizite Zustimmung zur Politik der NSDAP, allerdings durchaus eine Übernahme der herrschenden Begrifflichkeit wie »Terrorangriff« für die Städtebombardements der Alliierten oder »Mordanschlag« für das Attentat vom 20. Juli.
Die beherrschende Realität war für Alice Schmidt der Krieg, den sie 1944 wenig enthusiastisch verfolgte. Am 8. Januar 1944 berichteten Erna und ihr Mann, »wie zerstört B[erlin] durch Terrorangriffe wäre.« Häufig gab es auch in Greiffenberg Fliegeralarm, allerdings waren die nächsten Ziele Görlitz und Bunzlau, nicht Greiffenberg selbst. Am 5. 6. notierte Alice Schmidt: »Rom in feindlicher Hand. - Oh wei!«, am 6. 6.: »In der Nacht vom 5/6. Invasion in der Normandie begonnen. Äußerst harte Kämpfe, mit weiteren Landungen zu rechnen. – O, wenn nur nicht bei Arno! – Nun ists sicher für lange Zeit mit Urlaub aus! – – O weia!« Und am 10. 6. heißt es überraschend: »Feindangriff gewinnt immer mehr an Boden. Äußerst heftige und blutigste Kämpfe. – Freßt Euch doch, freßt Euch doch auf!(16) – Wenn im W. so heftig, dann ist hoffentlich für N. nichts zu befürchten [...]«. Am 21. 6. erfuhr sie (woher?) vom »Terrorangriff auf Berlin – so schlimm wie noch nie.« Am 25. 6. traf sie bei ihrer Mutter »Frau Hille, die aus Berlin getürmt ist«. Am 20. 7. heißt es trocken: »Am Abend 5 Flaschen [Blaubeeren] noch gefüllt, bis nachts nach 12, wollte grade butzen gehen, da tönt’s Radio: Führer spricht. (War Mordanschlag gewesen.)«
In den folgenden Monaten ist der Krieg im Tagebuch nur als Fliegeralarm präsent,
erst am 16. Dezember wandte sich Alice Schmidt wieder dem Krieg und seinen Folgen zu: »I awaked from the Lärm from the Rückenden Treck who stood before our 3 houses. Ungarn. – O and the horses was so little, thin and tired, and the Plan-Wägel so little and was all there Hab and Gut. O wahnsinnige Zeit! – Wer kann diese Irrsinne je verantworten! –.« Daß ihr selbst ein ähnliches Schicksal drohte, schien sie zu diesem Zeitpunkt nicht zu wissen, ja, nicht einmal zu befürchten.
Die wenigen Einträge im Notizkalender für 1945 beginnen am 2. 2.: »Hurra! – Arno steht vor der Tür! – Urlaub!!« Diese Eintragung verrät noch nicht, daß Arno Schmidt diesen Urlaub geplant hatte, um die Flucht nach Westen zu organisieren. Er hatte sich dafür ›freiwillig‹ zur Front melden müssen. Nach elf Tagen – in denen keine Tagebucheinträge erfolgten(17) – notierte Alice Schmidt am 13.Februar: »Die Pilgerreise begann. – Einer der dunkelsten Tage meines Lebens. – Arno sagte mir beim Abschied auf der Wieseler Höhe: wir sehen uns bestimmt wieder u. Tränen standen in seinen Augen. –« Es folgten am 14. und 15. Februar die Stationen der Flucht, (18) am 16. Februar sah sie in der Nähe von Dresden das»Elend der Ausgebombten« und traf ihren Mann noch einmal wieder. Damit enden Alice Schmidts Aufzeichnungen aus dem Krieg. Ihre Flucht führte sie am 25. Februar 1945 nach Quedlinburg zu ihrer Schwiegermutter, von wo sie sich am 15. Oktober nach Luthe abmeldete. Über Thale im Harz und Goslar kam sie schließlich am 5. November nach Luthe bei Hannover. Das Anmeldungsformular dort wurde bereits von Arno Schmidt ausgefüllt.

(1) Im Besitz der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld.
(2) Ein Hinweis darauf, daß im Jahr 1943 nicht Tagebuch geführt wurde, läßt sich daraus entnehmen, daß die erste Eintragung im 44er Tagebuch auf den 31. 12. 1943 datiert ist und beginnt: »Am 29. 12. 43 starb ganz einsam an den Folgen einer Magenoperation mein Vater.«
(3) Anders dagegen das Nachkriegstagebuch Alice Schmidts, das ab September1948 geführt wurde und mit der Übersendung des Verlagsvertrags vom Rowohlt-Verlag (für den »Leviathan«) einsetzte. Dieses Tagebuch war zumindest anfangs deutlich als Dokumentation eines Dichterlebens geplant, wenn es sich auch im Lauf der Jahre mehr zu einem persönlichen Journal Alice Schmidts entwickelte. Vgl. Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1954. Herausgegeben von Susanne Fischer, Frankfurt 2004
(4) Die Adresse ist auf ihrem Heiratsschein verzeichnet, auch erinnert sie sich in einem Brief an ihren Bruder an nächtliche Sternbetrachtungen als Jugendliche von einem Fenster der Gerberstraße aus.
(5) Tagebucheintragung vom 3. März.
(6) 27. Juli:»In the morning Aufruf von Dr. Goebbels gehört, habe Entschluß gefaßt mich freiwillig zur Wehrarbeit zu melden. Mal mit Dr. H reden.« 28.Juli: »Muttel redete mir ab mich freiwillig zu melden. Sagte Dr. H. am Abend ich wolle arbeiten.«
(7) Im Tagebuch vermerkt sind insgesamt 27 Briefe und 28 Päckchen von Arno an Alice Schmidt sowie 27 Päckchen von Alice an Arno Schmidt. Da ein Großteil der Briefe aus Norwegen in den ersten beiden Monaten des Jahres verzeichnet ist, läßt sich vermuten, daß noch weitere Briefe ankamen, die nicht erwähnt wurden – ganz zu schweigen von ihren eigenen Briefen, von deren Abfassung sie nur selten berichtet.
(8) Else Murawski an Alice Schmidt, Greiffenberg, 17. 3. 1945. – Die Rede ist von deutschen Soldaten.
(9) Zu Johannes Schmidt vgl. »Wu Hi ?« Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg, hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach, Zürich 1986, S. 131-159.
(10) Nähere Angaben zu diesen Büchern gibt es im Tagebuch nicht; ersteigert hat Alice Schmidt schließlich nur zwei Bände von Jules Verne.
(11) Zu einem möglichen Zitat aus dem Pharos vgl. den Abschnitt Politik und Krieg.
(12) Werner Murawski hatte sich für die Offizierslaufbahn entschieden und kam als Unteroffizier Anfang September 1943 zum zweiten Mal an die Front.
(13) So im Tagebuch vom 27. 6. Die »Mohren« - drei kleine, aus einer Schokoladenschachtel ausgeschnittene Sarotti-Mohren – scheinen die wichtigsten belebten Gegenstände in der privaten Zauberwelt gewesen zu sein.
(14) Werner Murawski an Alice Schmidt, 4. November 1943.
(15) Alice Schmidt an Werner Murawski, 16. November 1943 Wie die Schreiberin im Hinblick auf die Kämpfe an der Ostfront – vom »Blute erschlagener Menschen« ist in ihrem Brief auch die Rede – auf Don Quichote kommt, läßt sich nur über die Literarisierung des Krieges nachvollziehen, mit der sie auch ihren Mann als »mit Ungeheuern kämpfenden Ritter« ansah.
(16) Möglicherweise handelt es sich hier um ein Zitat aus dem Pharos (vgl. BA I/4, S. 626), leider ist diese Stelle im Tagebuch fast unleserlich. Ein Pharos-Zitat wäre ein weiteres Indiz für Alice Schmidts interpretatorische Verlagerung des Krieges in eine literarisierte Sphäre der Ungeheuer.
(17) Zu dieser Zeit packten Schmidts ihre Bücher und einen Teil ihrer Habe zusammen und schickten sie nach Westen. Offenbar half Arno Schmidt auch den Verwandten seiner Frau, denn ihre Schwester Erna läßt ihm in einem Brief vom 20.2.1945 aus Lichtenstein in Sachsen für seine Hilfe danken. Allerdings merkten Erna Sandmann und auch Else Murawski an, daß die Flucht auf Arno und Alice Schmidts Betreiben unnötig überstürzt stattgefunden habe und deswegen schlecht organisiert gewesen sei.
(18) Zittau, Sebnitz, Schandau, Pirna.